Das @neurIST EU Projekt

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@neurIST (Integrated Biomedical Informatics for the Management of Cerebral Aneurysms) ist ein großes, EU-gefördertes Forschungsprojekt, das von Januar 2006 bis März 2010 lief. Ziel von @neurIST war es, die die Risikoeinschätzung für das Reißen von Hirnaneurysmen entscheidend zu verbessern, denn der Arzt steht hier vor einem Dilemma. Dazu wurden statistische, genetische und biomechanische Daten und Verfahren gebündelt. Diese Einführung konzentriert sich vor allem auf die Identifikation von mechanischen Risikofaktoren mittels patienten-individueller biomechanischer Simulation, mit allen Schwierigkeiten und Lösungsstrategien.

Eine (hypotetische?) Begebenheit

Hirnaneurysmen werden immer häufiger gefunden, oft eher zufällig. Die meisten verursachen nie Beschwerden. Wenn ein Aneurysma allerdings reißt, dann sind schwere, oft tödliche Hirnblutungen die Folge. Leider ist überhaupt nicht klar, welche Aneurysmen ein so hohes Ruptur-Risiko tragen, dass sie operiert werden müssen, noch welche Behandlung jeweils die erfolgversprechenste ist.

Stellen Sie sich vor, Sie haben einen Autounfall. Nichts Schlimmes, nur Blechschaden, aber im Krankenhaus wird zur Sicherheit ein CT gemacht. Danach erläutert Ihnen der Oberarzt in ernstem Tonfall: Wir haben ein Aneurysma in Ihrem Hirn entdeckt, also eine kleine Aussackung einer Arterie. Das ist nicht unbedingt etwas Ernstes, aber es gibt eine gewisse Gefahr, dass es wachsen und irgendwann reißen könnte. Dann würden Sie in akuter Lebensgefahr schweben. Sie sind schockiert. Kann man da was machen? fragen Sie. Nun, sagt der Arzt, man kann das operieren, oder einen Stent implantieren, aber es ist nicht klar, ob das das Problem auf Dauer löst. Hirn-Operationen sind selbst nicht ohne Risiko. Da es nur ein kleines Aneurysma ist, schlage ich vor, erst einmal abzuwarten, und es regelmäßig zu beobachten.

Das Dilemma des Arztes

Diese kurze und hoffentlich vollkommen hypothetische Episode veranschaulicht ein klinisches Dilemma: Etwa 1-5% der Bevölkerung werden irgendwann Hirnaneurysmen entwickeln. Wenn solche Aneurysmen reißen, führen sie zu Hirnblutungen und Schlaganfall, und sehr oft zum Tod oder zu schwerwiegenden Behinderungen.

Zum Glück reißen nur wenige Aneurysmen tatsächlich, nur welche? Heutzutage werden viele eher zufällig gefunden, wie in unserer kleinen Geschichte. Das verschäft das Dilemma, wenn was soll der Neurochirurg oder Radiologe jetzt tun? Nicht zu behandeln birgt das Risiko einer möglichen Ruptur, und sofortiges Behandlen führt zu der Frage, welche Behandlung am besten ist und ob nicht das Behandlungsrisiko am Ende größer ist als das Risiko des Nichtstuns. Diese Fragen werden in der Medizin kontrovers diskutiert.

Zusammenführen von Informationen

Natürlich ist schon einiges bekannt über Aneurysmen. Ein Großteil des Wissens ist über die Literatur verstreut, aber es ist für den einzelnen Arzt schwierig, hier den Überblick zu behalten, und auch größte individuellen Anstrengungen dürften nicht ausreichen um die Situation entscheidend zu verbessern.

An diesem Punkt setzt @neurIST an. Dieses große EU-Projekt hatte zum Ziel, die Diagnose und Behandlung zerebraler Aneurysmen zu verbessern, indem die verschiedenen Informationsquellen zusammengeführt werden und somit neue Zusammenhänge zwischen Ruptur-Risiko und Merkmalen des einzelnen Patienten erschlossen werden können.

@neurIST hatte viele Facetten, hier konzentrieren wir uns auf den Zweig, der biomechanische Parameter als mögliche Indikatoren untersuchte.

Die Suche nach biomechanischen Riskiofaktoren

Es gibt starke Hinweise, dass biomechanische Charakteristika von Aneurysmen (Form, maximaler Blutdruck und Wandspannungen etc) mit ihrem Ruptur-Risiko korrellieren. In @neurIST wurden einige Dutzend solcher Indikatoren untersucht. Diese wurden aus Bilddaten von mehreren hundert Patienten mit Simulationen individuell ermittelt, um dann mit statistischen Methoden (Data mining) potentielle Risikofaktoren aufzuspüren.

Die direkte Ursache für ein Aufreißen ist offensichtlich mechanischer Natur. Daher kann man erwarten, dass unter den biomechanischen Eigenschaften und Belastungen des Aneurysmas auch mechanische Risikoindikatoren gefunden werden können. @neurIST hat eine große Anzahl solcher möglichen Risikoindikatoren (etwa maximaler Wand-Scherspannung) an mehreren hundert Einzelfällen ermittelt, weitaus mehr als in allen vorhergegangenen Studien.

Das Projekt hat drei Analyse-Modalitäten untersucht:

  • Erstens, rein geometrische Charakterisierungen, wie Volumen oder Formparameter,
  • zweitens, Charakterisierungen der Blutströmung durch das Aneurysma und die benachbarte Blutbahn,
  • and drittens, die Wandmechanik der Aneurysmen.
Insgesamt wurden mehrere Dutzend solcher beschreibender Parameter definiert, für alle Patientenfälle berechnet und in eine Data-Mining-Umgebung integiert, um damit Risikofaktoren auzuspüren.

Herausforderungen

Dies erwies sich als höchst anspruchsvolle Aufgabe. Nicht alleine war die bloße Fallanzahl (und der damit einhergehende Arbeitsaufwand) bisher unerreicht, sondern auch die geplante statistische Auswertung stellte besondere Anforderungen: So musste der Output dieser Berechnungen ohne statistische Verzerrung sein — trotz eines guten Dutzends verschiedener Bearbeiter, welche diese Analysen durchführten, Daten aus verschieden klinischen Zentren mit unterschiedlichster Bildgebungs-Hardware und Protokollen und einer langen Kette individueller Bearbeitungsschritte, von Bildsegmentierung über Geometrieverarbeitung, Problemdefinition für die Simulation, Lösung, Extraktion der Resultate und schließlich statistischer Analyse.

Vor der ersten Analyse musste das Projekt noch grundlegende Entscheidungen treffen über die verwendeten mathematischen Modelle, etwa ob starre oder bewegliche Arterienwände für die Strömungsanalyse verwendet werden sollten. Die Unsicherheiten, die mit vielen dieser Entscheidungen verbunden sind, führten zu einer neuen Fragestellung, nämlich, wie damit umgehen, dass spätere Erkenntnis etwa gegenteilige Entscheidungen sinnvoll erscheinen lassen könnte? Wie könnte man die gewonnenen Daten so organisieren, dass

  • spätere Änderungen der Entscheidungen möglich bleiben
  • verschiedene Modellierungsentscheidungen ko-existieren können, ohne statistische Aussagekraft zu gefährden, und schließlich
  • die Erzeugung der berechneten Daten zu 100% nachvollziehbar ist?

Strategien

@neurIST hat diese Schwierigkeiten auf verschiedenen Wegen angegangen, die in den Fallstudien detailliert vorgestellt werden: